“You do not
have problems-
you are the problem.”

Aus dem Archiv der Gitananda Yoga Gesellschaft Deutschland e. V.

6. Dezember 2010

Bhavana, die yogische Kunst des Seins

Ein Vortrag von Kalaimamani, Yogacharini Smt. MEENAKSHI DEVI BHAVANANI, gehalten am 18. März 2010 auf dem National Workshop cum Seminar: ROLE OF YOGA IN PREVENTION AND MANAGEMENT OF HYPERTENSION in Pondicherry


Die Rishis haben uns gelehrt, dass wir nicht nur das sind, was wir denken, sondern dass auch die Welt so ist, wie wir denken, dass sie ist. Die innere Einstellung, die Attitüde ist alles. Eine grundlegende Qualifikation in der Yogakunst ist die Fähigkeit, das geeignete bhavana, den Gemütszustand oder die geistige Verfassung gegenüber allem, was uns geschieht, einzunehmen. Ich selbst habe eine wichtige Lektion in Sachen Aufbau positiver Haltungen von einem sehr einfachen Lebewesen, einer Fliege gelernt.
Während ich ein Glas frischen Orangensaft trinke hat etwas kleines Schwarzes, das im strahlend gelben Saft schwimmt, meine Aufmerksamkeit erregt. Es war eine Fliege! Ich schüttete den Saft schnell auf den Boden und spuckte den Rest entsetzt aus. Beinahe hätte ich eine Fliege verschluckt! Dann grübelte ich nach: Was wäre, wenn ich die Fliege nicht rechtzeitig wahrgenommen hätte? Was wäre, wenn ich die Fliege einfach mitgetrunken hätte, niemals wissend, dass ich ein Insekt konsumiert hätte. Es hätte für meinen Körper kein bisschen Unterschied ausgemacht. Meine Verdauungssäfte hätten das zusammen mit dem Orangensaft besorgt und ich wäre auch nicht klüger als zuvor gewesen. Aber was für ein Schrecken und Abscheu hatte ich auszuhalten, als ich das sah!
Dieses alltägliche Ereignis bedeutete eine wichtige Erkenntnis für mich. Ich wurde mir der unglaublichen Macht bewusst, die die Gedanken und die daraus folgenden Einstellungen (bhavanas) haben, unsere bewusste Wirklichkeit zu verändern und zu beeinflussen: Der furchtbare Unterschied zwischen dem objektiven Geschehen und dem, was wir von dem Ereignis denken bzw. unserer Reaktion darauf.
Dr. Victor Frankl, ein österreichischer Psychoanalytiker, entdeckte seine berühmte Heilbehandlung, die heute als Logotherapie bekannt ist, als er in einem deutschen Konzentrationslager während des zweiten Weltkrieges interniert war. Dort, an einem Ort, wo die Meisten in Verzweiflung und Leid lebten, erfuhr er eine spirituelle Transformation, die sein inneres Leben erleuchtete. All seines Besitzes beraubt, von seinen Angehörigen getrennt, eingekerkert, fand er eine Freiheit, die ihm niemand, auch nicht der übelste Diktator wegnehmen konnte. Er entdeckte, dass die einzige, letzte Freiheit, die jedes menschliche Wesen besitzen konnte, die Freiheit war, seine eigene Einstellung zu wählen. Diese Entdeckung, die seine physische und emotionale Gesundheit in Zeiten großer Belastung bewahrte, wurde später zu einem Grundstein seines berühmten psychologischen Heilverfahrens.

Adi Vyadhi: Der Geist triumphiert über die Materie. Wie viele westliche, sogenannte "moderne Entdeckungen" war auch diese Tatsache schon vor ungezählten Jahrtausenden Hindudenkern bekannt und wurde von ihnen angewendet. Adi vyadhi, der Grundsatz der Macht des Geistes über die materielle Realität wurde von Rishi Vashista seinem jungen Schüler, dem yuvaraja, Gott Rama, gelehrt und ist seither von erleuchteten Menschen durch Generationen hindurch ihren Schülern in Indien angepriesen worden. In meinem eigenen Fall brachte mich das beinahe Verschlucken der Fliege zu denselben Erkenntnissen wie Dr. Frankl, Rishi Vashista und Gott Rama, wenn auch auf einfachere und alltäglichere Art. In diesem Moment habe ich vollständig und deutlich begriffen, dass es weniger wichtig ist, was uns passiert, als was wir meinen, dass uns passiert. Mit anderen Worten: Unsere Einstellung zu einem Geschehen ist der bestimmende Faktor unseres Karmas. Unterbewusst hat diese Erkenntnis schon lange in mir gegärt. Den ersten Anschauungsunterricht gab mir meine Mutter. Ihre Freude, die erste rote, reife Tomate aus ihrem Garten zu ernten und zu verspeisen hätte nicht größer sein können, selbst wenn mein Vater ihr einen mit Diamanten besetzten Ring oder eine goldene Halskette geschenkt hätte. Sie hatte solch eine Freude an den wechselnden Jahreszeiten, den farbigen Blättern des Herbstes oder den ersten Schneeflocken im Winter. Die Objekte, die ihr diese intensive Freude gaben, waren klein und alltäglich, aber ihr Entzücken war riesig. Dann wurde mir zum Teil klar, dass in einem Palast zu leben, Seide und Juwelen zu tragen, selbst die Königin der Welt zu sein in ihrem Bewusstsein keine größere Freude hervorgerufen hätte als die erste Schneeflocke oder die erste rote und reife Tomate. Der innere Zustand selbst war das wichtige, nicht was ihn ausgelöst hat.

Alle Geschehen sind mehr-dimensional: In demselben Gedankenstrang begriff ich, dass in dieser zusammenhängenden Welt der Phänomene jedes Ereignis vieldimensional ist. Ein Mann geht einen Dschungelpfad entlang. Ein Tiger frisst ihn auf. Gutes Karma für den Tiger, aber schlechtes Karma für den Mann! Im Weltenplan löst oft des einen Freude das Leid des anderen aus. Die Lebensweise des einen Wesens erfordert den Tod eines anderen. Wir können den universellen Plan der Dinge nicht umwandeln, aber wir können unsere Einstellung dazu ändern. In den Jataka Erzählungen steht, dass Buddha in einer Inkarnation durch einen Wald wanderte und auf eine hungernde Tigermutter mit ihren zwei Jungen traf. In einer Geste göttlichen Mitgefühls setzte er sich in padma asana und bot der Tigerin seinen Körper als Nahrung für sie und ihre Jungen an, den sie annahm. Was für ein Unterschied zwischen Buddhas Einstellung und der eines gewöhnlichen Mannes, der von einem Tiger gefressen wird!
Unsere Yogarishis lehren, dass man sein Karma durch seine eigene Reaktion, seine Einstellung dazu oder sein bhavana ändern kann. Denken Sie nur an die Geschichte eines Anhängers, der sich an seinen Guru wendet und ihn fragt, wie viele Wiedergeburten er noch zu erdulden habe, bevor er vom samsarischen Zyklus befreit sein würde. Der Guru antwortete: "Mein Sohn, für dich bleiben nur noch zehn Wiedergeburten." Der Mann lief fort, entmutigt davon, dass er noch durch so viele Körper mehr hindurchgehen würde müssen. Bald erschien ein anderer Mann. "Geliebter Lehrer" sagte er "sage mir bitte wie viele Wiedergeburten werde ich erleben, bevor ich moksha (Erlösung) erreichen werde?" "Mein Sohn" sagte der Guru, "du musst noch 10.000 mal mehr geboren werden." "Nur noch 10.000 Geburten mehr!" rief der Mann in Ekstase. Er tanzte und schrie vor Freude. "Nur noch 10.000 Geburten mehr!" Und in diesem Moment wurde er erleuchtet.
Jede echte spirituelle Freiheit liegt in jemandes Einstellung zu dem Ereignis, der Position, die der Verstand einnimmt. Das Geschehnis kann vielleicht nicht verändert werden aber die eigene Haltung dazu. Die Einstellung, bhavana, ist sicherlich unter Kontrolle des bewussten Willens. Und manchmal hat genau diese Einstellung die Macht, das Ereignis abzuändern, wie wiederkehrend Karma auch immer ist.
"Was sollen wir tun? Wohin sollen wir gehen?" beklagte sich einst ein Schüler des Gurus beim Meister. "Im Sommer ist es so heiß, im Winter ist es zu kalt." Der Guru lächelte und sagte: "Geh irgendwohin, wo es weder heiß noch kalt ist." Wo kann dieser Ort sein? Nur im Geist, der einfach heiß als heiß und kalt als kalt akzeptiert und nicht darauf reagiert, es für Vergnügen oder Schmerz hält, es mag oder nicht mag.

Verschiedene Bewusstseinsebenen: Menschliche Wesen leben ähnlich den Fischen im Wasser auf verschiedenen Bewusstseinsebenen. Obwohl zehn Personen äußerlich das gleiche Erlebnis durchlaufen, können sie eigentlich entsprechend ihrer Konditionierung und ihrer inneren Haltung zehn vollkommenden unterschiedliche Erfahrungen machen. Ich habe Jahrtausende alte indische Tempel bereist, mit Begeisterung die überwältigenden Schwingungen genossen und die feinsten Skulpturen gesehen. War ich mit meinen Studenten unterwegs, staunte ich über die sagenhafte Tempelarchitektur, über Musik und Tanz, über die saftig grünen Reisfelder, die würdevollen Dorffrauen, die Messingtöpfe auf ihrem Kopf trugen, welche wundervoll in den Strahlen der aufgehenden Sonne schimmerten. Doch zu meiner Bestürzung stellte ich oft fest, dass ich auf einer "Solotour" war. Meine Begleiter machten eine völlig andere Erfahrung. Sie litten unter der furchtbaren Hitze, wurden von Tausenden von wilden, südindischen Mosquitos gebissen, verbrannten ihre Zungen an dem scharf gewürzten Essen und empfanden Abscheu über den Dreck, den sie überall sahen. Sie sahen wenig von dem, was ich gesehen hatte, fühlten wenig von der Ergriffenheit, die ich gefühlt hatte. Ihre und meine Einstellung waren Galaxien auseinander. Die äußeren Erlebnisse waren dieselben, aber die inneren Reaktionen darauf waren weit voneinander entfernt.
Ein anderes Beispiel für die Macht innerer Haltung oder bhavana kommt mir in den Sinn. In Malaga, Spanien ging ich zum Einkaufen täglich auf den Markt und kam an einem kleinen, dicken, spanischen Mädchen vorbei, das immer gleich neben einer Softeismaschine saß. Sie war da, wenn ich morgens um 8.00 Uhr vorbeiging und sie war bei meiner Rückkehr mittags um 12.00 Uhr da. Falls ich mich mal am späten Nachmittag hinauswagte, sah ich sie dort wie sie sich mit ihren Kunden unterhielt und scherzte. Ich wunderte mich über ihre fröhliche Art bei solch einer langweiligen Arbeit. Ich lachte in mich hinein, dass sie eine "Gefangene dieser Eiscrememaschine" war. Sie konnte sich von diesem Fleck nicht entfernen, ein Kunde hätte kommen können und Eiscreme verlangen. Sie hätte genauso gut daran angekettet sein können. Tatsächlich dachte ich, was wäre, wenn sie verurteilt worden wäre zur Strafe Tag für Tag neben dieser Eiscrememaschine zu sitzen, mit einem Bein an der Grundplatte angekettet? Nach ein paar Wochen hätte sie unter äußersten seelischen Qualen gelitten, wäre vielleicht sogar verrückt geworden. Aber weil sie sich entschieden hat diesen Job zu machen, für ihren Lebensunterhalt, Tag für Tag, aus ihrem eigenen freien Willen heraus, erledigte sie ihn bereitwillig, sogar fröhlich, lachend und scherzend mit denen, die vorbeikamen, Monat für Monat. Ihr Leben war lebenswert wegen ihrer Einstellung zu ihrer Lage.

In der Gegenwart leben: Außerdem hat der menschliche Geist eine sehr schlechte Angewohnheit, nämlich sich an vergangene Erfahrungen zu klammern und ihnen zu erlauben, seine Einstellung zur Gegenwart zu verfärben. Der Geist, gleich einem hungrigen Hund mit einem Knochen, liebt es, immer und immer wieder über das gleiche vergangene Ereignis zu grübeln (darauf herumzukauen), von neuem leidend, wenn die Erfahrung schmerzhaft war, wieder daran Gefallen findend, wenn das Erlebnis Vergnügen beinhaltete. Eine Zengeschichte verdeutlicht gut diese menschliche Neigung. Zwei Mönche laufen eine Straße hinunter und kommen zu einem jungen Mädchen, das am Ufer eines reißenden Flusses steht. Das Mädchen hatte Angst vor dem Fluss, musste ihn aber überqueren, um ihr Zuhause auf der anderen Seite zu erreichen. Der ältere Mönch griff das junge Mädchen auf, zog sie hoch auf seinen Rücken und trug sie hinüber auf die andere Seite. Anschließend setzten sie ihre Wanderung auf dem Weg fort. Nach einer halben Stunde konnte sich der jüngere Mönch nicht länger beherrschen: "Du weißt, dass es uns verboten ist, selbst in die Nähe junger und hübscher Mädchen zu kommen. Doch du hast dieses eine hochgenommen und auf die andere Seite getragen." Der ältere Mönch lachte und sagte: "Ich habe dieses Mädchen am Flussufer gelassen. Trägst du sie immer noch?"
Der große Guru Swami Gitananda erzählte oft eine andere Geschichte, welche die Macht von bhavana verdeutlicht. Eines Morgens, als er die Straße hinunterlief, traf er einen Freund, der schrecklich unglücklich und niedergeschlagen war. "Was ist los, Ram?" fragte er. Der Mann weinte: "Meine Frau ist eben gestorben. Wehe mir! Wer wird sich um mich kümmern? Wer wird meine dosas kochen und meine Kleider waschen? Was soll ich überhaupt tun? Meine Frau ist tot." Swamiji tröstete den Mann so gut er konnte und schickte ihn auf seinen Weg. Etwas weiter die Straße hinunter traf Swamiji einen anderen Freund, Krishnamurti, der mit freudigen Schritten die Straße herunter lief. "Namaskar" grüßte ihn Krishnamurti mit einem Lächeln. "Wie geht es dir, Swamiji? Ich freue mich so sehr, dich zu sehen!" "Mir geht es gut" antwortete Swamiji. "Und du siehst wirklich glücklich aus." "Ich bin heute sehr glücklich Swamiji. Lass mich dir erzählen warum. Meine Frau ist gerade gestorben." "Deine Frau ist eben gestorben?" antwortete Swamiji etwas schockiert über das Verhalten seines Freundes. "Ja" antwortete der kleine Krishnamurti. "Sie ist zu den Lotusfüßen ihres Herrn zurückgekehrt. In den letzten paar Jahren litt sie so sehr an ihrer unheilbaren Krankheit. Sie war eine gute Frau. Sie versorgte mich und die Kinder gut. Sie hat ein gutes Leben gelebt und nun ist sie frei. Mit diesen Worten setzte er seinen Weg fort. Das äußere Ereignis war das gleiche, der Tod der Ehefrau. Aber bei diesem Tod konnte der eine Mann nur an sich selbst und sein Elend denken, was durch den Verlust seiner Gehilfin verursacht wurde. Der andere Mann, sich eine positive Einstellung aneignend, begriff den Segen des Todes unter diesen Umständen und stand seinem Leben trotz der Tragödie frohgemut gegenüber.
Weil Fasten ein unentbehrlicher Teil der Yogapraxis in unserem Ashram ist, bleiben wir oft tagelang ohne Nahrung. Tatsächlich habe ich viele Male 21 Tage lang gefastet. Während dieser Zeit habe ich große Freude und spirituelle Erheiterung erfahren, hervorgerufen durch solches Tapas. Doch täglich nähern sich mir auf der Straße Bettler mit traurigen, hungrigen und mitleiderregenden Blicken. "Amma, Amma!" sagen sie, "sehr hungrig, kein Essen heute, ich werde sterben, bitte gib Geld!" Sie sind elend selbst wenn sie nur einen Tag ohne Essen bleiben müssen! Beide, der Bettler und ich sind ohne Nahrung, aber mit welch einem Unterschied in unseren Einstellungen.

Hatha Yoga und bhavana: Der Hatha Yoga stellt eine bedeutende Methode bereit, eine Persönlichkeit zu entwickeln, die in der Lage ist, in jeder vorgegebenen Situation die richtige innere Haltung zu wählen. Wie kann das sein? Lassen sie es mich erklären! Das englische Wort "attitude" heißt laut Lexikon "Position, Lage, Stellung des Körpers" oder "Geisteszustand, Gemütsverfassung..... in der etwas betrachtet wird." Funk und Wagnalls Standard College Dictionary führt weiter aus: "attitude ist ein Synonym für Position, das heißt Standort, Stelle oder Ausrichtung, Orientierung im Raum...., es bedeutet auch ein gewählter Blickwinkel oder Meinung." Attitüde (Einstellung) hängt somit eng zusammen mit der "Stellung des Körpers", denn die Art, wie wir unseren Körper halten, gibt unsere Attitüde oder Geistesverfassung zu erkennen. Im Sanskrit stammt das Wort asana von der Wurzel asi oder sein. Asana reflektiert also einen Seinszustand. In modernem yogischen Kontext ist asana dazu verkommen, lediglich eine gymnastische Verdrehung des Körpers zu bezeichnen. Aber im Kern bedeutet asana des Weiteren die innere Einstellung oder bhavana oder Seinszustand. Asana spiegelt das bhavana und kann auch bhavana hervorrufen. Folglich können wir logischerweise Asanas bewusst dazu nutzen, positive Einstellungen oder bhavanas zu erzeugen. Asana hilft uns bei der Entscheidung für den richtigen Standpunkt oder der richtigen Einstellung des Geistes und des Körpers zu jeder Situation in unserem Leben. Im Hatha Yoga ist jede erdenkliche Stellung, zu der der menschliche Körper fähig ist, erforscht: Umkehrposen, Vorbeugen, Rückbeugen, Balancieren auf einem Bein, auf den Händen, auf dem Steißbein u.s.w. Die Körperposen sind zahlreich und der Körper ist flexibel gebaut, fähig, jede Stellung, die der Geist verlangt, einzunehmen. Da also die Körperposen die Attitüde oder bhavana widerspiegeln, wird ein beweglicher Körper die Entwicklung eines beweglichen Geistes unterstützen, der eine Situation von allen möglichen Seiten her sehen kann um dann bewusst die bestmögliche in Betracht zu ziehende Position auszusuchen. Demzufolge stehen bhavana, Attitüde und asana in enger Beziehung zueinander und beeinflussen sich gegenseitig drastisch.

Die Freiheit, einzig seine Haltung zu wählen: Westliche Kritik an kulturellen Verhaltensmustern der Hindus und ihrem starren System von Vorstellungen und Rollen übersieht die Bedeutung der inneren Einstellung, die spirituellen Frieden und Freude hervorruft. Der westliche Geist sucht beständig ein äußeres Paradies (entweder im Diesseits oder im Jenseits), worin er glücklich sein kann, während hingegen der östliche Geist, gesegnet mit einer verständigeren Tradition, weiß, dass das Paradies allein im Geist begründet liegen kann. Tatsächlich fördert genau diese Strenge des Hindusystems positive Einstellungen. Beispielsweise hat die Haltung der Hindus zur Heirat starke Familienbande hervorgerufen. Heiraten sind auf ewig in der traditionellen Hindukultur verankert, wörtlich: "bis das der Tod euch scheidet." Wenn man weiß, dass man den Rest seines Lebens mit seine(r)m Gatten(in) verbringen muss und dass es keine Alternative gibt, wird die Haltung ihm oder ihr gegenüber sicher eine andere sein, als wenn man weiß, dass man ihn oder sie mühelos in irgendeinem Moment wegen irgendeines Grundes verlassen kann. Wenn man in einem Gefüge lebt, was nicht verändert werden kann, selbst wenn die sich daraus ergebende Situation unerträglich ist, dann muss man entweder seine Einstellung ändern oder sterben oder wahnsinnig werden oder davonlaufen. Hier ist ein wunderbares Gebet in diesem Sinn: "Herr, gib mir die Kraft, das zu ändern, was verändert werden kann, die Geduld, das anzunehmen, was nicht verändert werden kann und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden." Das war das große Gebet, dass Victor Frankl während seiner Jahre im Konzentrationslager gelernt hat. Es erfordert natürlich ein beträchtliches Vertrauen ins Universum und Klugheit genug, die Lage genau zu begreifen. Man muss glauben oder wissen, dass jede Situation, in die man hineingestellt wird, genau die ist, die für sein eigenes Wachstum, für seine weitere Evolution gebraucht wird. In Patanjalis Yogasystem ist dieses bhavana oder diese Attitüde der fünfte niyama und heißt ishwar pranidhana oder sich dem Willen Gottes unterwerfen und alle Umstände als prasadam (geheiligte Speise) anzunehmen. Das ist die Essenz yogischer Einstellung dem Leben gegenüber. Das ist auch die Essenz der Seligpreisungen Jesu (engl: beatitude - "be-attitude"), die richtige Daseinseinstellung. Jedes Ereignis, jede Beziehung, angenehm oder unerfreulich, wird zu einem Hilfsmittel von Entwicklung und weiterem spirituellen Wachstum. Wenn es jemand "über den Berg" geschafft hat äußerliche Paradiese zu suchen oder einen Ruheplatz, der weder zu heiß noch zu kalt ist, wenn er begreift, dass dieser ideale Ort nur in seinem eigenen Bewusstsein und in einer positiven Einstellung zum Universum existiert, dann geht er sicher auf dem spirituellen Weg. Er versteht, dass der Himmel (und die Hölle) innerhalb unseres eigenen Geistes liegen.
Golda Meir, die ehemalige Premierministerin von Israel, wurde einmal gefragt, was denn das Geheimnis der ungeheuren Überlebenskraft ihrer kleinen Nation unter so feindlichen Bedingungen sei. Sie dachte ein paar Momente nach und sagte dann einfach: "Unsere Stärke rührt von der Tatsache her, dass wir keine Alternative haben." In der Tat ist alles möglich, wenn man keine andere Möglichkeit hat. Wenn man sich keine Ausflüchte erlaubt, kann man das Unmögliche erreichen. In einer unerträglichen Situation, mit dem Rücken zur Wand, wenn kein Entrinnen möglich ist, kann die positive Einstellung auf der Stelle einen Feigling zu einem Helden, einen Schwächling zu einem starken Mann und Versagen in Erfolg verwandeln.
Ich bin immer dankbar dafür, dass ich an diesem Tag die Fliege nicht verschluckt habe. Nicht dass das irgendeinen Unterschied für meinen vegetarischen Körper gemacht hätte. Sicher hätte dieses Insekt leicht verdaut werden können und ich: so klug wie zuvor. Aber dieser Vorfall mit der kleinen Fliege wurde zum Höhepunkt einer Gedankenkette, die lange vor den Kindheitsträumereien begonnen hatte. Das war die Kleinigkeit, die mit einer falschen Konditionierung mit einem Schlag aufräumte, ich fand mich befreit auf einer Bewusstseinsebene, auf der jede Erfahrung als neuerliche Gelegenheit zur Evolution begrüßt wurde. Kalt oder heiß, angenehm oder unerfreulich, Erfolg oder Versagen - all das wurde völlig unerheblich. Es war jene einfache Fliege, die mich die wahre Bedeutung von "beatitude" (Glückseligkeit) lehrte und mir die richtige bhavana, die yogische Einstellung zum Leben gab.

Übersetzung: Markus Häussler

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